Charta Über eine Ausgeprägte Partnerschaft
zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Ukraine
I. Aufbau erweiterter Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine
- Die Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) und ihre Mitgliedstaaten und die Ukraine, im folgenden als NATO und Ukraine bezeichnet
- aufbauend auf einer politischen Verpflichtung auf höchster Ebene;
- in Würdigung der grundlegenden Veränderungen des Sicherheitsumfelds in Europa, durch die die Sicherheit jedes Staates mit der aller anderen untrennbar verknüpft ist;
- in dem festen Willen, das gegenseitige Vertrauen und die Zusammenarbeit mit dem Ziel zu stärken, Sicherheit und Stabilität zu erhöhen und beim Aufbau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten Europas zusammenzuarbeiten;
- unter Hinweis auf die grundlegende Umwandlung, die die NATO seit Ende des kalten Krieges in Gang gesetzt hat, und ihre fortgesetzte Anpassung an die sich verändernden Umstände der euro-atlantischen Sicherheitslage, einschließlich ihrer von Fall zu Fall erfolgenden Unterstützung neuer friedenserhaltender Operationen, die unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats oder der Verantwortung der OSZE durchgeführt werden;
- erfreut über die von der Ukraine erzielten Fortschritte und in Erwartung weiterer Schritte zur Fortentwicklung ihrer demokratischen Institutionen, zur Durchführung radikaler Wirtschaftsreformen und zur Vertiefung des Prozesses der Einbindung in sämtliche europäischen und euro-atlantischen Strukturen;
- angesichts der positiven Rolle der NATO bei der Erhaltung von Frieden und Stabilität in Europa und bei der Förderung des Vertrauens und der Transparenz im euro-atlantischen Raum sowie angesichts ihrer Offenheit für die Zusammenarbeit mit den neuen Demokratien Mittel- und Osteuropas, dessen untrennbarer Bestandteil die Ukraine ist;
- in der Überzeugung, daß eine unabhängige, demokratische und stabile Ukraine einer der Schlüsselfaktoren für die Gewährleistung der Stabilität in Mittel- und Osteuropa sowie auf dem Kontinent insgesamt ist;
- eingedenk der Bedeutung starker und dauerhafter Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine sowie in Würdigung der in einem breiten Spektrum von Aktivitäten erzielten erheblichen Fortschritte bei der Entwicklung erweiterter und vertiefter Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine auf der Grundlage der Gemeinsamen Presseerklärung vom 14. September 1995;
- in dem festen Willen, ihre Zusammenarbeit im Rahmen des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats, einschließlich des erweiterten Programms "Partnerschaft für den Frieden", weiter auszubauen und zu intensivieren;
- erfreut über ihre praktische Zusammenarbeit im Rahmen von IFOR/SFOR und anderer friedenserhaltender Operationen im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien;
- in der gemeinsamen Erkenntnis, daß die Öffnung der Allianz für neue Mitglieder nach Artikel 10 des Washingtoner Vertrags auf den Ausbau der Stabilität in Europa und der Sicherheit aller Staaten in Europa abzielt, ohne neue Gräben aufzureißen - verpflichten sich, auf der Grundlage dieser Charta ihre Zusammenarbeit weiter auszubauen und zu vertiefen und eine ausgeprägte und wirkungsvolle Partnerschaft zu entwickeln, die die Stabilität und gemeinsame demokratische Werte in Mittel- und Osteuropa weiter fördern wird.
II. Grundsätze für die Entwicklung der Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine
- Die NATO und die Ukraine richten ihre Beziehungen an den Grundsätzen und Verpflichtungen nach dem Völkerrecht und aus internationalen Übereinkünften einschließlich der Charta der Vereinten Nationen, der Schlußakte von Helsinki und der nachfolgenden OSZE-Dokumente aus. Dementsprechend bekräftigen die NATO und die Ukraine ihre Verpflichtung,
- anzuerkennen, daß die Sicherheit aller Staaten im OSZE-Raum unteilbar ist, daß kein Staat seine Sicherheitsinteressen auf Kosten eines anderen Staates verfolgen sollte und daß kein Staat einen Teil der OSZE-Region als seine Einflußsphäre betrachten darf;
- auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen irgendeinen anderen Staat in einer Weise, die mit der VN-Charta und den die Teilnehmerstaaten leitenden Grundsätzen der Schlußakte von Helsinki unvereinbar ist, zu verzichten;
- das naturgegebene Recht aller Staaten zu achten, ihre Sicherheitsvereinbarungen frei zu wählen und umzusetzen und ihre Sicherheitsvereinbarungen, einschließlich Bündnisverträgen, frei zu wählen oder diese im Laufe ihrer Entwicklung zu wechseln;
- die Souveränität, territoriale Unversehrtheit und politische Unabhängigkeit aller anderen Staaten sowie die Unverletzlichkeit von Grenzen zu achten und die Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen zu fördern;
- für Rechtsstaatlichkeit, die Stärkung der Demokratie, politischen Pluralismus und eine marktwirtschaftliche Ordnung einzutreten;
- die Menschenrechte und die Rechte von Personen, die nationalen Minderheiten angehören, zu achten;
- im Einklang mit den Grundsätzen der VN und der OSZE Konflikte zu verhüten und Streitigkeiten durch friedliche Mittel beizulegen.
- Die Ukraine bekräftigt ihre Entschlossenheit, ihre Verteidigungsreformen voranzutreiben, die demokratische und zivile Kontrolle über die Streitkräfte zu stärken und deren Interoperabilität mit den Streitkräften der NATO und denen der Partnerländer zu verbessern. Die NATO bekräftigt ihre Unterstützung für die Bemühungen der Ukraine in diesen Bereichen.
- Die Ukraine begrüßt die fortgesetzte und aktive Anpassung der NATO an die sich verändernden Bedingungen der euro-atlantischen Sicherheit sowie die Rolle, die die NATO in Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen wie der OSZE, der Europäischen Union, dem Europarat und der Westeuropäischen Union bei der Stärkung der euro-atlantischen Sicherheit und der Förderung eines allgemeinen Klimas des Vertrauens in Europa spielt.
III. Bereiche für Konsultationen und/oder Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine
- In Bekräftigung ihres gemeinsamen Ziels der Umsetzung eines breiten Spektrums von Themen für Konsultationen und Zusammenarbeit verpflichten sich die NATO und die Ukraine, ihre Konsultationen und/oder ihre Zusammenarbeit in den nachstehend dargelegten Bereichen weiterzuentwickeln und zu verstärken. In diesem Zusammenhang bekräftigen die NATO und die Ukraine ihre Verpflichtung zur umfassenden Entwicklung des Euro-Atlantischen Partnerschaftsrats und der erweiterten PfP. Dies schließt, nach Maßgabe der Beschlüsse des Nordatlantikrats zu spezifischen Operationen, die Teilnahme der Ukraine an Operationen, einschließlich friedenserhaltender Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats oder der Verantwortung der OSZE von Fall zu Fall sowie, falls dabei Alliierte Streitkräftekommandos (CJTF) zum Einsatz kommen sollten, die frühzeitige Teilnahme der Ukraine daran ein.
- Die Konsultationen zwischen der NATO und der Ukraine werden Fragen von gemeinsamem Interesse betreffen, darunter:
- politische und sicherheitspolitische Themen, insbesondere die Entwicklung der euro-atlantischen Sicherheit und Stabilität, einschließlich der Sicherheit der Ukraine;
- Operationen zur Konfliktverhütung, Krisenbewältigung, Friedensunterstützung, Konfliktbeilegung und humanitäre Operationen unter Berücksichtigung der Rolle der Vereinten Nationen und der OSZE in diesem Bereich;
- die politischen und verteidigungspolitischen Aspekte der Nichtverbreitung von Kernwaffen, biologischen und chemischen Waffen;
- Abrüstungs- und Rüstungskontrollfragen, auch in bezug auf den Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag); den Vertrag über den Offenen Himmel sowie vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen nach dem Wiener Dokument von 1994;
- Waffenexporte und damit verbundener Technologietransfer;
- Bekämpfung des Drogenhandels und des Terrorismus.
- Die Bereiche für Konsultationen und Zusammenarbeit, insbesondere durch gemeinsame Seminare, gemeinsame Arbeitsgruppen und andere Programme der Zusammenarbeit, werden eine breite Palette von Themen umfassen, darunter:
- Zivilschutzplanung und Katastrophenvorsorge;
- die Beziehungen zwischen dem zivilen und dem militärischen Sektor, die demokratische Kontrolle über die Streitkräfte sowie die ukrainische Verteidigungsreform;
- Verteidigungsplanung, -budgetierung, -politik und -strategie sowie nationale Sicherheitskonzeptionen;
- Rüstungskonversion;
- militärische Zusammenarbeit sowie Interoperabilität zwischen der NATO und der Ukraine ;
- wirtschaftliche Aspekte der Sicherheit;
- Forschungs- und Technologiefragen;
- Fragen der Umweltsicherheit einschließlich nuklearer Sicherheit;
- Forschung und Entwicklung in der Luft- und Raumfahrt durch AGARD (Beratende Gruppe für Luftfahrtforschung und -entwicklung);
- Abstimmung der Luftverkehrsregelung und -kontrolle zwischen zivilen und militärischen Stellen.
- Darüber hinaus werden die NATO und die Ukraine so weit wie möglich die folgenden Bereiche der Zusammenarbeit ausloten:
- Rüstungszusammenarbeit (über den bestehenden Dialog im Rahmen der Konferenz der Nationalen Rüstungsdirektoren hinaus);
- militärische Ausbildung, einschließlich PfP-Übungen in ukrainischem Hoheitsgebiet sowie NATO-Unterstützung für das polnisch-ukrainische Friedenserhaltungs-Bataillon;
- Förderung der Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich zwischen der Ukraine und ihren Nachbarn.
- Weitere Bereiche für Konsultationen und Zusammenarbeit können auf der Grundlage der gemeinsam gewonnenen Erfahrung im gegenseitigen Einvernehmen hinzugefügt werden.
- Angesichts der Bedeutung von Informationsaktivitäten für die Verbesserung der gegenseitigen Kenntnis und des gegenseitigen Verständnisses hat die NATO ein Informations- und Dokumentationszentrum in Kiew eingerichtet. Die ukrainische Seite wird dem Zentrum in Übereinstimmung mit der am 7. Mai 1997 in Kiew unterzeichneten Vereinbarung zwischen der NATO und der Regierung der Ukraine bei der Erfüllung seiner Aufgaben ihre volle Unterstützung gewähren.
IV. Praktische Regelungen für Konsultationen und Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine
- Die Konsultationen und die Zusammenarbeit im Rahmen dieser Charta werden umgesetzt durch:
- Sitzungen der NATO und der Ukraine auf der Ebene des Nordatlantikrats in einvernehmlich festzulegenden Abständen;
- Sitzungen der NATO und der Ukraine mit den entsprechenden NATO-Ausschüssen nach einvernehmlicher Festlegung;
- gegenseitige hochrangige Besuche;
- Mechanismen für militärische Zusammenarbeit einschließlich regelmäßiger Treffen mit den NATO-Stabschefs und Aktivitäten im Rahmen des erweiterten Programms Partnerschaft für den Frieden;
- eine militärische Verbindungsstelle der Ukraine wird als Teil einer ukrainischen Vertretung bei der NATO in Brüssel eingerichtet. Die NATO behält sich das Recht vor, im Gegenzug eine militärische Verbindungsstelle der NATO in Kiew einzurichten.
Die Sitzungen werden normalerweise im NATO-Hauptquartier in Brüssel stattfinden. Unter außergewöhnlichen Umständen können sie im gegenseitigen Einvernehmen auch an anderen Orten einberufen werden, auch in der Ukraine. Die Sitzungen werden in der Regel auf der Basis eines vereinbarten Zeitplanes stattfinden.
- Die NATO und die Ukraine betrachten ihre Beziehungen als einen evolutionären dynamischen Prozeß. Um sicherzustellen, daß sie ihre Beziehungen weiterentwickeln und diese Charta so weit wie möglich umsetzen, wird der Nordatlantikrat mit der Ukraine als NATO-Ukraine-Kommission in regelmäßigen Abständen, in der Regel mindestens zweimal jährlich, zusammentreffen. Die NATO-Ukraine-Kommission wird nicht die gleichen Aufgaben wie andere in dieser Charta beschriebene Mechanismen erfüllen, sondern zusammentreten, um eine allgemeine Bewertung des Entwicklungsstands der Beziehungen vorzunehmen, die Zukunftsplanung zu erörtern und Möglichkeiten vorzuschlagen, wie die Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine verbessert oder weiterentwickelt werden kann.
- Die NATO und die Ukraine werden eine Verstärkung des Dialogs und eine Erweiterung der Zusammenarbeit zwischen der Nordatlantischen Versammlung und der Verkhovna Rada anregen.
V. Zusammenarbeit für ein sicheres Europa
- Die NATO-Verbündeten werden weiterhin die Souveränität und Unabhängigkeit, die territoriale Unversehrtheit, die demokratische Entwicklung und den wirtschaftlichen Wohlstand der Ukraine, ihren Status als Nichtkernwaffenstaat sowie den Grundsatz der Unverletzlichkeit von Grenzen als Schlüsselfaktoren für Stabilität und Sicherheit in Mittel- und Osteuropa und auf dem gesamten Kontinent unterstützen.
- Die NATO und die Ukraine werden einen Konsultationsmechanismus für Krisenfälle entwickeln, um sich gemeinsam zu beraten, wenn die Ukraine eine direkte Bedrohung ihrer territorialen Unversehrtheit, ihrer politischen Unabhängigkeit oder ihrer Sicherheit feststellt.
- Die NATO begrüßt und unterstützt die Tatsache, daß die Ukraine als Nichtkernwaffenstaat und Vertragsstaat des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) von allen fünf Vertragsstaaten des NVV, die Kernwaffenstaaten sind, Sicherheitsgarantien erhalten hat, und erinnert an die Verpflichtungen, die die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich gemeinsam mit Rußland sowie Frankreich einseitig übernommen haben, als sie in Budapest 1994 den historischen Beschluß faßten, der Ukraine als Nichtkernwaffenstaat und Vertragsstaat des NVV Sicherheitsgarantien zu geben.
Die richtungsweisende Entscheidung der Ukraine, auf Kernwaffen zu verzichten und dem NVV als Nichtkernwaffenstaat beizutreten, hat einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität in Europa geleistet und der Ukraine zu besonderem Ansehen in der internationalen Gemeinschaft verholfen. Die NATO begrüßt die Entscheidung der Ukraine, die unbegrenzte Verlängerung des NVV zu unterstützen, sowie ihren Beitrag zum Abzug und zur Demontage der Kernwaffen, die in ihrem Hoheitsgebiet stationiert waren.
Die verstärkte Zusammenarbeit der Ukraine mit der NATO wird den politischen Dialog zwischen der Ukraine und den Mitgliedern der Allianz über eine breite Palette von Sicherheitsfragen, einschließlich nuklearer Fragen, erweitern und vertiefen. Dies wird zur Verbesserung des gesamten Sicherheitsumfelds in Europa beitragen.
- Die NATO und die Ukraine nehmen zur Kenntnis, daß die KSE-Flankenvereinbarung am 15. Mai 1997 in Kraft getreten ist. Die NATO und die Ukraine werden ihre Zusammenarbeit betreffend Fragen von gemeinsamem Interesse, wie der Anpassung des KSE-Vertrags, fortsetzen. Die NATO und die Ukraine beabsichtigen, die Wirkungsweise des KSE-Vertrags in einem sich ändernden Umfeld zu verbessern und hierdurch die Sicherheit jedes Vertragsstaats unabhängig von seiner Mitgliedschaft in einem politisch-militärischen Bündnis zu stärken. Sie teilen die Auffassung, daß die Anwesenheit ausländischer Truppen im Hoheitsgebiet eines Teilnehmerstaats mit dem Völkerrecht, der frei zum Ausdruck gebrachten Zustimmung des Gaststaats oder einem einschlägigen Beschluß des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in Einklang stehen muß.
- Die Ukraine begrüßt die Feststellung der Mitglieder der NATO, daß die Erweiterung des Bündnisses keine Veränderung des derzeitigen Nukleardispositivs der NATO erfordern wird und die NATO-Staaten daher "nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlaß haben, nukleare Waffen im Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch die Notwendigkeit sehen, das Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik der NATO in irgendeinem Punkt zu verändern - und dazu auch in Zukunft keinerlei Notwendigkeit sehen".
- Die NATO-Mitgliedstaaten und die Ukraine werden weiterhin alle Übereinkünfte über Abrüstung, Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle sowie die vertrauensbildenden Maßnahmen, zu denen sie sich verpflichtet haben, vollständig umsetzen.
Diese Charta wird mit ihrer Unterzeichnung wirksam.
Diese Charta wird in zwei Urschriften ausgefertigt, jede in englischer, französischer und ukrainischer Sprache, wobei jeder Wortlaut gleichermaßen verbindlich ist.
Geschehen zu Madrid, am 9. Juli 1997