Perspektiven der Sicherheitspolitik im Zusammenspiel von EU und NATO

Rede von NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer<br />an der Humboldt-Universität, Berlin, Deutschland

  • 12 May. 2005 - 01 January 0001
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  • Last updated 04-Nov-2008 01:45

Sehr geehrter Herr Professor Pernice, Herr Reimers,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

Es ist eine große Ehre für mich, hier an der Humboldt-Universität sprechen zu dürfen, aber auch eine große Herausforderung. Denn spätestens seit Außenminister Fischer hier in diesem Saal seine berühmte Europa-Rede gehalten hat, verbinden sich mit Vorträgen an dieser Universität natürlich sehr hohe Erwartungen. Mancher von Ihnen mag heute Vormittag auch die Bundestagsdebatte zur Europäischen Verfassung verfolgt haben.

Es schließt sich also, wenn Sie so wollen, heute ein europapolitischer Kreis. Nur werden Sie sich vielleicht fragen: Was hat der NATO-Generalsekretär damit zu tun? Berühren sich nicht EU und NATO allenfalls punktuell, operieren sie nicht im Großen und Ganzen weniger miteinander als nebeneinander her? Und ist die EU nicht etwas ganz anderes als die NATO, ein Gebilde sui generis zwischen Bundesstaat und internationaler Organisation?

Vielleicht. Aber meine These ist: NATO und EU müssen ihre bereits oft proklamierte strategische Partnerschaft praktische Wirklichkeit werden lassen. Sie dürfen sich nicht von dogmatischen Bedenken und kleinlichen Rücksichten aufhalten lassen, oder sich gar als Konkurrenten auf dem Markt der Außen- und Sicherheitspolitik verstehen. Im Gegenteil: Ein tragfähiges transatlantisches Verhältnis verlangt geradezu nach einer engen Zusammenarbeit von NATO und EU.

In den vierzig Jahren des Kalten Krieges hätte ein NATO-Generalsekretär über die EU kein Wort verloren. Und umgekehrt hätte ein Kommissionspräsident oder Ratspräsident der EU nichts zur NATO zu sagen gehabt. Es gab eine klare Arbeitsteilung: Die EU kümmerte sich um die wirtschaftliche Integration, die NATO dagegen, vor allem die USA, kümmerten sich um den militärischen Schutz. Da gab es in der Tat nicht viel miteinander zu besprechen.

Erinnern wir uns: Es herrschte die Logik der Blockkonfrontation, des status quo. Das Projekt der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft war schon 1954 am französischen Senat gescheitert. Die europäische Integration war offenkundig noch nicht reif für so hochpolitische Dinge wie Außen- und Verteidigungspolitik. Also wandten sich die Europäer einem anderen Projekt zu: der Wirtschaft, dem Handel, der Landwirtschaft und Fischerei, später auch der Währung. Im Zeitalter der nuklearen Abschreckung konnten nur die USA und die NATO die Sicherheit des freien Teils Europas gewährleisten. Die Deutschen, heute in einem Staat wieder vereinigt, haben vielleicht am meisten hiervon profitiert. Hier in Berlin, der Stadt von Mauer und Luftbrücke, weiß man das am allerbesten.

Heute sieht die Welt um uns herum anders aus. Die Teilung Europas ist aufgehoben, das letzte NATO-Außenministertreffen vor drei Wochen fand zum Besipiel in Vilnius in Litauen statt. Es gibt heute neue Realitäten, die unsere Sicherheitslandschaft bestimmen.

Die erste Realität ist: Das dominierende Szenario des Kalten Krieges - die Besetzung des eigenen Territoriums durch eine fremde Macht - ist heute für Europa nicht mehr maßgebend. Wie Henry Kissinger treffend formuliert hat, kann das Überleben eines Staates heute von Entwicklungen abhängen, die sich gänzlich innerhalb der Grenzen eines anderen Staates vollziehen. Dies gilt für den Terrorismus aus einem „failed state“ wie Afghanistan ebenso wie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Dies gilt aber auch für Regionalkonflikte wie die, die wir auf dem Balkan erlebt haben.

Die Konsequenzen dieser Entwicklung sind vielfältig: Unsere Truppen dienen nicht mehr der Abschreckung oder der klassischen Landesverteidigung, sondern der Eindämmung von Konflikten und ihrer Verhinderung in entfernteren Regionen der Welt. Die Stablisierung einer Krisenregion, nicht selten nach einem Bürgerkrieg, verlangt nach einem neuen Mix von zivilen und militärischen Fähigkeiten. Alle internationalen Institutionen mit ihren komparativen Vorteilen, die sich in einer Region engagieren, müssen aufs Engste zusammen arbeiten, wenn sie erfolgreich sein wollen.

Aber auch bei der Befriedung von Regionalkonflikten haben alle erkennen müssen: Ohne aktive Beteiligung der USA kann sie nicht gelingen. Die jahrelange Unfähigkeit der Vereinten Nationen und der EU, den blutigen Bürgerkrieg in Bosnien zu stoppen, ist in der Region immer noch in klarer Erinnerung.

Die zweite Realität betrifft die Entwicklung der EU zu einem sicherheitspolitischen Akteur. Dies ist eine Entwicklung, die ich ohne jeden Vorbehalt unterstütze. Eine immer engere Union ohne gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wäre ein Torso, und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ohne eine europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wäre ebenso ineffektiv wie unglaubwürdig. Die Europäische Verfassung bringt Europa auch auf diesem Weg einen großen Schritt nach vorn, und deshalb hoffe ich nicht nur als überzeugter Europäer, sondern auch als NATO-Generalsekretär auf ein Inkrafttreten der Verfassung. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Verfassung auch auf die NATO als Verteidigungsbündnis seiner Mitgliedstaaten verweist.

Damit komme ich zur dritten Realität, die ich heute hervorheben möchte: Der unabdingbaren Notwendigkeit enger transatlantischer Zusammenarbeit und deshalb eines lebendigen und manchmal auch kritischen transatlantischen Dialogs. Der Streit über die Rechtfertigung des Irak-Kriegs war ernst und schmerzlich. Er hat nicht nur Distanz zu den USA geschaffen, er hat darüberhinaus einen Riss quer durch die EU erzeugt. Heute liegt dieser Streit aber zum Glück hinter uns. In NATO und EU herrscht Einigkeit, dass es zu einem stabilen und demokratischen Irak einfach keine Alternative gibt - und dass alle zu diesem Ziel beitragen müssen. Jetzt geht es darum sicher zu stellen, dass solche Spaltungen sich nicht wiederholen.

Welche Folgerungen ergeben sich aus diesen Realitäten? Wie immer gibt es diejenigen, die aus der Hüfte schießen, die vorschnell und radikal urteilen. So haben die neuen Entwicklungen manche europäische Beobachter zu dem Fehlschluss verleitet, die NATO könne nun abdanken und der EU das Feld überlassen. Auch einige Amerikaner haben geglaubt, sie bräuchten das Bündnis nicht mehr, es genüge, sich seine Bundesgenossen bei Gelegenheit jeweils neu zusammenzustellen.

Es gibt auch jene, die genau umgekehrt argumentieren. Sie sehen die EU als Störfaktor im transatlantischen Gefüge. Ihr Rat lautet daher, die EU an der Übernahme sicherheitspolitischer Verantwortung zu hindern, um so den Primat der NATO nicht anzutasten. Diese Auffassung ist, was die NATO angeht, vielleicht gut gemeint, aber am Ende genauso kontraproduktiv. Was sagen die Amerikaner in solchen Fällen? „Thanks, but no thanks.“

Nein, ich ziehe hier ganz andere Schlüsse. NATO und EU gleichermaßen haben einen legitimen und wertvollen Platz in der Sicherheitsarchitektur von heute. Und sie sind beide unabdingbar für die transatlantische Kooperation, ohne die wir die sicherheitspolitischen Herausforderungen von heute nicht werden bewältigen können.

In seiner Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz hat Bundeskanzler Schröder zu Recht darauf hingewiesen, dass es zwei Achsen eines verstärkten transatlantischen Dialogs gibt - einerseits zwischen EU und USA direkt, und andererseits in der NATO, wo die USA sowieso mit am Tisch sitzen. Aber genügt es, den politischen Dialog in der NATO und zwischen USA und EU zu intensivieren, wie es unsere Absicht ist?

Nein, wir müssen auch die dritte Achse verstärken, damit sich ein Dreieck der Zusammenarbeit und politischen Diskussion bildet. Ohne eine echte strategische Partnerschaft zwischen EU und NATO bleibt alles andere Stückwerk, sind Rivalitäten und Missverständnisse programmiert. Aus meinen Gesprächen mit dem Bundeskanzler weiß ich, dass er dies genauso sieht.

NATO und EU haben sich in den vergangenen Jahren als überragende Gestaltungsinstrumente erwiesen. Auf dem Balkan arbeiten sie sie schon seit Mitte der neunziger Jahre eng zusammen und verfolgen die selben Ziele mit zum Teil unterschiedlichen Mitteln, in Afghanistan ebenfalls. Die Erweiterungspolitik von EU und NATO zeugt von einem hohen Maß an strategischer Gemeinsamkeit. Beide haben in den vergangenen Jahren Sonderverhältnisse mit Russland aufgebaut und verfolgen eine parallele Politik mit der Ukraine. Beide haben eine Nachbarschaftspolitik für ihr weiteres Umfeld entwickelt - auch für den südlichen Mittelmeerraum und den Nahen Osten.

Diese Logik ist nicht neu, und NATO und EU sind heute für einander keine Unbekannten mehr. Seit dem Jahr 2000 (man sollte wohl besser sagen: erst seit 2000) haben wir formale Beziehungen. In den Jahren 2002 und 2003 haben wir die so genannten „Berlin plus“-Vereinbarungen entwickelt, die der EU gesicherten Zugang zu den militärischen Planungs- und Führungskapazitäten der NATO geben, ohne dass sie solche Kapazitäten kostspielig bei sich selbst zu duplizieren braucht. Diese Vereinbarungen haben es erlaubt, dass die EU auf dem Balkan neben der NATO eine vollwertige friedenserhaltende Operation übernommen hat: Ende 2004 fand in Bosnien und Herzegovina der Übergang von SFOR zur EU-Operation Althea statt. NATO und EU stimmen sich ebenfalls eng über die Entwicklung militärischer Fähigkeiten ab – was wir im gemeinsamen Jargon „capabilities development“ nennen.

Das alles klingt ohne Zweifel nach Fortschritt – und wenn man es mit dem Kalten Krieg vergleicht, dann ist es auch Fortschritt. Aber ist bei weitem nicht genug. Ich widerspreche solchen, die sagen, wenn NATO und EU jeden Monat ein Meeting abhalten, sei alles bestens. Wenn die EU länglich diskutieren muss, ob es dem Chef der neuen Europäischen Rüstungsagentur erlaubt sein soll, als Beobachter an einem NATO-Treffen der Rüstungsdirektoren teilzunehmen, dann zeigt das, dass etwas nicht stimmt.

In mehr horizontalen Fragen wie der Bekämpfung des Terrorismus oder der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen leisten NATO wie EU wertvolle Beiträge. Es ist uns bisher aber nicht gelungen, einen echten Dialog in diesen Fragen in Gang zu bringen. Mir scheint, es gibt immer noch zu viele, die NATO und EU als Konkurrenzunternehmen missverstehen und in einer Art Nullsummendenken einen „Protektionismus“ zum Schutz der ESVP an den Tag legen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich weiss natürlich, dass EU und NATO sehr verschiedene Gebilde sind, und niemand will ihre Entscheidungsautonomie in Frage stellen. Auch wäre eine umfassende Zusammenarbeit in allen Sicherheitsfragen wohl zu weit gegriffen. Aber ich glaube auch, dass es schwer zu erklären ist, weshalb NATO und EU, die beide eine Schlüsselbedeutung haben, die in Werten und Zielen übereinstimmen und immer mehr Staaten zählen, die beiden Organisationen angehören - weshalb sie auf eine echte strategische Partnerschaft verzichten sollten, um ihre gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.

NATO und die EU arbeiten in Krisengebieten wie zum Beispiel in Bosnien flexibel und pragmatisch zusammen. Einen ähnlich pragmatischen Ansatz brauchen wir auch auf mehr politischer Ebene. Eine Partnerschaft, die sicherstellt, dass wir einander ergänzen und verstärken, ohne vermeintliche Rivalitäten oder politische Vorbedingungen. Wir sollten auch nicht davor zurückschrecken, das Spektrum der Kontakte zu erweitern und über die zweite Säule der EU, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, hinaus zu gehen. Wenn, wie wir alle hoffen, die Europäische Verfassung mit einem Europäischen Außenminister als Vizepräsident der Kommission in Kraft tritt, wird uns dies zweifellos leichter fallen. Aber schon heute sollte es mehr als bisher möglich sein, die Kommission dort, wo es sinnvoll ist, in die Zusammenarbeit mit der NATO einzubeziehen.

Der transatlantische Dialog auf hoher politischer Ebene könnte auch dadurch gestärkt werden, dass sich die Außenminister von NATO und EU ein- oder zweimal im Jahr informell zum Gespräch treffen. Auch hier weiß ich mich in Übereinstimmung mit der Bundesregierung.

Meine Damen und Herren,

Die Zeiten der Blockkonfrontation, als die NATO sozusagen als Schutzschirm des europäischen Integrationsprozesses diente, sind heute vorbei. Heute geht es um etwas anderes: Es geht um den Aufbau einer echten strategischen Partnerschaft zwischen der NATO und der EU. Die Voraussetzungen hierfür sind nicht schlecht. Die Europareise Präsident Bushs im Februar hat deutlich gemacht, dass die USA Europa weder gering schätzen noch spalten wollen. Sie hat zugleich gezeigt, dass eine Identifikation Europas gegen die USA ein Irrweg ist und bleibt.

Wenn auf beiden Seiten politische Einsicht und Pragmatismus herrscht, dann könnte am Ende ein Beziehungsgeflecht zwischen NATO und EU stehen, das der transatlantischen Gemeinschaft eine Vielzahl politischer, wirtschaftlicher und militärischer Handlungsoptionen böte - von der Terrorismusbekämpfung über die Eindämmung von Proliferation bis zum Umgang mit den geopolitischen Schlüsselregionen dieser Welt.

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.