Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Sehr geehrter Herr Verteidigungsminister,
Sehr geehrter Herr Generalinspekteur,
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
Ich freue mich sehr, heute hier bei Ihnen zu sein. Die Kommandeurtagungen sind für ihre Offenheit bekannt. Deshalb möchte auch ich ganz direkt und ohne Umschweife zur Sache kommen.
Erst vor wenigen Wochen hatten wir im Bündnis eine heftige Debatte über Solidarität und Lastenteilung in Afghanistan. Ausgelöst hatte sie der Brief des amerikanischen Verteidigungsministers Robert Gates. Die Wellen schlugen sehr hoch, gerade hier in Berlin.
Als Generalsekretär der NATO sitzt man in einem solchen Fall zwischen zwei Stühlen. Einerseits verstehe ich Bob Gates sehr gut – schließlich dränge auch ich die Nationen immer wieder, mehr in Afghanistan zu tun. Andererseits: ein öffentliches „blame game“ führt selten zu dem Ergebnis, das man eigentlich haben will.
Aber gleichgültig, auf welcher Seite man in dieser Debatte steht, eines ist für mich ganz klar: allein die Tatsache, dass wir eine solche Debatte haben, zeigt, dass wir neu nachdenken müssen. Für mich jedenfalls beweist diese Diskussion, dass wir unseren Anspruch, die Lehren aus den sicherheitpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre gezogen zu haben, noch nicht wirklich eingelöst haben.
Wir alle reden davon, dass in der Sicherheitspolitik seit dem Ende des Kalten Krieges, und vor allem auch seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001, ein Epochenwandel stattgefunden hat. Und wir alle wissen um das Phänomen der Globalisierung [ - die Bundeskanzlerin hat darauf ja vorhin eindringlich hingewiesen]. Aber obwohl wir dies alles wissen, haben wir in unserer Sicherheitspolitik die Konsequenzen aus diesen Entwicklungen noch nicht in allen Bereichen gezogen.
Ich möchte deshalb in meinen Ausführungen drei Fragen beantworten. Erstens, worin genau besteht eigentlich der Epochenwandel in der Sicherheitspolitik? Zweitens, was bedeutet dieser Epochenwandel für unser Bündnis? Und drittens, welche Herausforderungen ergeben sich daraus für die nationale Sicherheitspolitik unserer Mitgliedstaaten?
Zunächst zur ersten Frage: worin besteht der Epochenwandel?
Ich glaube, man kann diesen Wandel an wenigen markanten Punkten festmachen. Da ist zum einen die Tatsache, dass wir es heute nicht mehr mit einer militärischen Bedrohung im klassischen Sinne zu tun haben. Das sicherheitspolitische Szenario des Kalten Krieges – die Besetzung des eigenen Territoriums durch eine fremde Macht – ist heute für Europa nicht mehr maßgebend. Niemand hat dies besser formuliert als Henry Kissinger. Das Überleben eines Staates, so Kissinger sinngemäss, kann heute von Entwicklungen abhängen, die sich gänzlich innerhalb der Grenzen eines anderen Staates vollziehen. Das gilt für den Terrorismus aus einem „failed state“ wie Afghanistan ebenso wie für die Proliferation von Massenvernichtungswaffen. Dem Terrorismus geht es eben nicht um Landnahme. Er zielt auf etwas ganz anderes: auf die Einschüchterung unserer Gesellschaften. Auf unsere Werte. Und natürlich auch auf unsere Politik.
Das bringt mich zu einem weiteren Merkmal des Epochenwandels in der Sicherheitspolitik: der Terrorismus des 21. Jahrhunderts hat keine Armee und kein Aufmarschgebiet. Das heißt, wir können die Bedrohung nicht mehr an eindeutigen Faktoren sichtbar machen. In den frühen 80er Jahren, als ich in der niederländischen NATO-Delegation arbeitete, da haben wir noch die Panzer und Flugzeuge des Warschauer Pakts gezählt und daraus unsere Antwort abgeleitet. Und die Antwort bestand im Wesentlichen darin, diesem Gegner ähnliche eigene Fähigkeiten entgegenzuhalten. Aber heute? Im Kampf gegen den Terrorismus gibt es keine Symmetrie der militärischen Fähigkeiten. Die Konflikte sind asymmetrisch – mit allen Konsequenzen.
Das bringt mich direkt zum nächsten Merkmal des Epochenwandels: unsere überkommenen Vorstellungen von Abschreckung sind hinfällig geworden. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: natürlich bleibt militärische Abschreckung ein wichtiges Instrument in den Beziehungen zwischen Staaten. Staaten handeln im eigenen Überlebensinteresse – das hoffen wir jedenfalls. Aber der „staatenlose” Terrorist, der den eigenen Tod in Kauf nimmt, befindet sich jenseits der Abschreckung. Und auch verfeindete Volksgruppen in einem „gescheiterten Staat“ lassen sich nicht von außen davon abschrecken, aufeinander einzuschlagen. Wer hier Einfluss nehmen will, muss handeln – er muss vor Ort eingreifen.
Und noch einen weiteren Punkt möchte ich hervorheben: die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. In den letzten 50 Jahren war diese Entwicklung auf Nationalstaaten beschränkt. Heute nicht mehr. Der Schwarzmarkt mit nuklearen, chemischen und biologischen Substanzen ist heute Realität geworden – und damit steigt auch die Chance für nichtstaatliche Akteure, in den Besitz von Massenvernichtungswaffen zu gelangen. Es ist kaum auszumalen, was dies bedeuten könnte.
Soviel zur Frage, wie sich die Welt seit dem Ende des Kalten Krieges verändert hat. Das bringt mich zu meiner zweiten Frage: Welche Folgerungen hat dieser Epochenwandel für unser Bündnis?
Auch hier ein paar markante Punkte. Erstens, im Zeitalter der Globalisierung kann sich die NATO nicht mehr als rein „eurozentrisches“ Bündnis verstehen. Natürlich bleibt für uns in Europa noch vieles zu tun. Ich erwähne hier nur die Kosovo-Frage und das Drängen auf NATO-Mitgliedschaft von Staaten aus Südosteuropa oder aus dem Kaukasus. Diese europäischen Ordnungsaufgaben werden uns noch lange beschäftigen. Aber die Zeit der selbst auferlegten geographische Beschränkungen – diese Zeit ist definitiv vorbei. Wir müssen den Bedrohungen dort begegnen, wo sie entstehen – auch außerhalb Europas. Mit unserem Einsatz in Afghanistan haben wir genau dies getan. Wir haben das traditionelle, geographische Verständnis von Sicherheit durch ein neues, funktionales Verständnis ersetzt. Und wir haben damit ein neues Kapitel der transatlantischen Sicherheitsvorsorge aufgeschlagen.
Die zweite Folgerung für die Allianz ist nicht weniger anspruchsvoll: wir müssen sicherstellen, dass die militärische Transformation unserem breiter gefassten Verständnis von Sicherheit entspricht. Das heißt, wir brauchen Streitkräfte, die fern von zu hause das gesamte Spektrum von peacekeeping bis zum Kampfeinsatz abdecken können. Und wenn ich sage „wir“, dann meine ich damit alle Verbündeten. In einer Allianz, in der alle füreinander da sind, kann es keine „Arbeitsteilung“ geben, bei der sich die einen auf das Kämpfen und die anderen auf die Konfliktnachsorge spezialisieren. Jeder muss alles können. Alle Bündnisstaaten brauchen Soldaten, die Kämpfer und Diplomat zugleich sind; Soldaten, die mit anderen Organisationen ebenso zusammenarbeiten können wie mit der Bevölkerung vor Ort. Wir alle brauchen aber auch die militärische „hardware“, um unseren Soldaten das zu geben, was sie zu Erfüllung ihres Auftrages benötigen. Und wir brauchen die richtige „software“, das heißt, die richtigen Planungs- und Finanzierungsmechanismen für die Einsätze neuen Typs wie Afghanistan. An all diesen Fragen arbeiten wir gegenwärtig im Bündnis.
Drittens, wir brauchen das, was Minister Jung mit dem Begriff der „vernetzten Sicherheit“ beschreibt, nämlich eine viel engere Koordination der internationalen Organisationen und NGOs. Viele Probleme lassen sich ohne die NATO nicht lösen, aber die NATO ist kein Allheilmittel. Afghanistan zeigt das ganz deutlich. Unser Erfolg dort hängt in erster Linie von Entwicklung und Wiederaufbau ab – also von Faktoren, auf die wir nur sehr begrenzt Einfluss haben. Hier sind andere gefragt – die Vereinten Nationen, die Europäische Union, die Weltbank, und so weiter. Die NATO wird ihren Teil dazu beitragen, dass der schwierige Versuch, diese Akteure näher aneinander heranzuführen, gelingt. Denn für uns ist Sicherheit nur noch als vernetzte Sicherheit denkbar. In diesem Zusammenhang begrüsse ich die Benennung Kai Eide’s als neuen Sondergesandten des VN-Generalsekretärs für Afghanistan. Ich bin sicher, er wird die notwendige Koordination weiter voranbringen.
Viertens, wir brauchen nicht nur ein engeres Verhältnis zu anderen Organisationen, sondern auch zu anderen Ländern. Australien stellt heute mehr als tausend Soldaten in Afghanistan. Japan betankt unsere Schiffe. Singapur beteiligt sich an einem Regionalen Wiederaufbauteam (PRT). Wenn der internationale Terrorismus die dunkle Seite der Globalisierung ist, dann zeigt sich hier die positive Seite: Staaten aus der ganzen Welt arbeiten mit der NATO zusammen, um einer gemeinsamen Herausforderung zu begegnen. Gibt es einen besseren Beweis für die Anpassungsfähigkeit unserer Allianz?
Fünftens, wir müssen die NATO in die Lage versetzen, auch auf neue Bedrohungen eine Antwort zu geben. Dabei geht es nicht darum, eine Führungsrolle für das Bündnis zu reklamieren. Es geht vielmehr darum, herauszufinden, welchen „Mehrwert“ die NATO bieten kann. Ein Beispiel ist die Verwundbarkeit unserer Energie-Infrastruktur. Kann die NATO hier – unter bestimmten Umständen - Schutzfunktionen übernehmen, und wenn ja, welche? Oder nehmen wir das Beispiel „cyber defence“. Im vergangenen Jahr wurde unser Bündnispartner Estland Opfer eines massiven Hacker-Angriffs. Gottseidank war Estland gut vorbereitet. Aber was tun wir, wenn andere NATO-Staaten, vielleicht sogar mehrere gleichzeitig, in eine ähnliche Lage geraten? Und dann noch das Beispiel Raketenabwehr. Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und Trägermitteln ist eine Realität, mit der wir uns auseinandersetzen müssen. Raketenabwehr ist ein wichtiger Teil unserer Antwort auf diese Bedrohung. Dass diese Antwort dem Prinzip der „unteilbaren Sicherheit“ unseres Bündnisses entsprechen muss, versteht sich dabei von selbst.
Dies bringt mich zum dritten und letzten Teil meiner Ausführungen: die Folgerungen für die nationale Sicherheitspolitik unserer Mitgliedsstaaten.
Mir ist natürlich bewusst, dass ich mich hier auf gefährliches Terrain wage. Denn unsere Mitgliedsstaaten sind in ihrer Sicherheitspolitik nicht nur formell souverän, sie lassen mich dies auch immer wieder spüren. Wenn ich also trotzdem einige Anmerkungen zur nationalen Ebene mache, dann deshalb, weil ich mit einem Missverständnis aufräumen will, das leider in vielen Mitgliedsländern besteht – das Missverständnis nämlich, dass für die öffentliche Begründung von NATO-Einsätzen eben in erster Linie das Hauptquartier in Brüssel zuständig sei.
Nein, so einfach ist die Sache eben nicht. Natürlich stehen wir in Brüssel in der Verantwortung, was die öffentliche Vermittlung der NATO angeht. Und natürlich werde ich persönlich auch weiterhin für den Kurs werben, den ich für die NATO als richtig erachte. Dazu zählt beispielsweise, dass ich auch künftig für die weitere Verringerung von nationalen „caveats“ eintrete – auch wenn ich als ehemaliger Parlamentarier sehr wohl weiß, wie schwierig diese Forderung umzusetzen ist.
Aber die Hauptverantwortung für die Vermittlung und Begründung von Sicherheitspolitik ist und bleibt eine nationale. Weder Berlin noch Washington, weder Rom noch Warschau können sich hinter Brüssel verstecken. Es ist und bleibt Aufgabe der nationalen Regierungen und Parlamente, Sicherheitspolitik zu erklären, dafür zu werben, und dafür Mehrheiten zu schaffen. Betrachten Sie meine abschließenden Kommentare daher als Wegweiser für eine aufgeklärte nationale Debatte – nicht mehr, und nicht weniger.
Erstens, Bündnissolidarität definiert sich heute anders als im Kalten Krieg. Im Ost-West Konflikt war die Solidarität im Bündnis „institutionalisiert“. Die Streitkräfte vieler Bündnisstaaten waren in Westdeutschland stationiert, und damit war klar, dass jeder Konflikt das ganze Bündnis betroffen hätte. Da gab es keine Wahlmöglichkeit. Heute ist das anders. Afghanistan ist unsere Priorität Nummer Eins, aber jeder Staat entscheidet selbst über Art und Umfang seines Engagements. Es liegt auf der Hand, dass damit der Abstimmungsbedarf zwischen den Verbündeten dramatisch ansteigt. Es liegt aber ebenso auf der Hand, dass auch der Bedarf an öffentlicher Begründung wächst. Mit anderen Worten, ich muss heute in jedem Einzelfall um öffentliche Zustimmung werben. Eine Bündnisautomatik, die uns die Erklärungsarbeit abnimmt, gibt es nicht mehr.
Und dies bringt mich zu meiner zweiten Bemerkung. Wir müssen in der nationalen Debatte von einer realistischen Lageeinschätzung ausgehen. Dazu gehört, dass man sich von der Vorstellung verabschiedet, wir könnten in den heutigen Konflikten „peacekeeping“, Kampfeinsatz und Wiederaufbau genau voneinander trennen. Das ist eine Illusion. Afghanistan zeigt das sehr deutlich. Wer dort im Norden Schulen baut, der wird für die Taliban genau so zum legitimen Ziel wie der, der sie im Süden direkt bekämpft. Afghanistan lässt sich deshalb auch nicht in Zuständigkeitsbereiche aufteilen. Dieses Land wird entweder als Ganzes gewonnen oder als Ganzes verloren. Es ist nicht nur die Aufgabe der NATO in Brüssel, sondern auch der nationalen Politik in unseren 26 Mitgliedstaaten, diesen Punkt eindringlich klar zu machen.
Drittens schließlich – und dies ist sozusagen mein Credo: nie war in unserer Sicherheitspolitik politische Führung stärker gefragt als heute. Sicherheitspolitik, wie jede Politik in einer Demokratie, folgt demokratischen Spielregeln. Aber nirgendwo sonst spielt entschlossene politische Führung eine so entscheidende Rolle. Deutschland ist hierfür das beste Beispiel. In der Geschichte der Bundesrepublik haben Regierungen erst in Bonn und dann in Berlin schwierige Entscheidungen gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung getroffen: Die Wiederbewaffnung und die NATO-Mitgliedschaft in den fünfziger Jahren, der NATO-Doppelbeschluss in den achtziger Jahren, und das militärische Engagement auf dem Balkan Mitte der neunziger Jahre, bis hin zum Kampfeinsatz in der Kosovo-Krise. Heute erleben wir auch in Bezug auf Afghanistan, wie eine skeptische Öffentlichkeit durch eine zielstrebige politische Führung und gute Argumente überzeugt werden kann.
Meine Damen und Herren,
In drei Wochen werden wir in Bukarest unseren nächsten NATO-Gipfel abhalten. Am Treffen zu Afghanistan werden über 60 Staaten teilnehmen – Verbündete, Partner, ISAF-Truppensteller, dazu Internationale Organisationen - mehr als bei allen vorangegangenen NATO Gipfeln. Das hat nichts mit Gigantomanie zu tun. Im Gegenteil. Die Teilnahme so vieler Staaten und Organisationen bringt zum Ausdruck, dass die NATO heute nur noch gemeinsam mit anderen Erfolg haben kann. Es wird deshalb eine der wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre sein, die NATO im Gefüge der internationalen Institutionen neu zu verorten. Und ich glaube, dass wir hier auf dem richtigen Weg sind.
Etwas anderes aber sollte ebenso klar sein: die Allianz kann die Rolle, die wir ihr abverlangen, nur spielen, wenn alle Mitgliedstaaten ihren Beitrag dazu leisten. Gewiss, die NATO hat als Organisation einen weiten Weg zurückgelegt. Wir haben diese Allianz, wie schon Manfred Wörner zu Recht gefordert hat, von einem Bündnis der Friedenserhaltung zu einem Bündnis der Friedensgestaltung gemacht.
Aber um diesen Weg konsequent weiter zu gehen, brauchen wir auch auf der nationalen Ebene einen weitreichenden Bewusstseinswandel. Wir alle müssen die Konsequenzen des globalen Zeitalters nicht nur erkennen, wir müssen auch bereit sein, unsere Sicherheitspolitik entsprechend anzupassen. Dazu gehört nicht zuletzt, dass wir unseren Afghanistan-Einsatz richtig einordnen. In einer Zeit, in der sich die Grenzen zwischen innerer und äußerer Sicherheit verwischen, ist Afghanistan eben kein Einsatz, den wir uns aus freien Stücken ausgesucht haben. Dieser Einsatz ist eine strategische Notwendigkeit. Wer universelle Werte schützen und verteidigen will, der hat hier keine Wahl – er muss handeln.
Die NATO gibt uns dafür ein einzigartiges Instrument. Es liegt an uns, dieses Instrument kreativ zu nutzen.
Vielen Dank.